Nicht nur in produktiven Prozessen, auch im Gesundheitswesen schreitet die Automatisierung voran – und verändert dieses in nahezu allen Bereichen. Prozesse, die früher manuell oder ausschließlich durch menschliche Fachkräfte durchgeführt wurden, werden zunehmend durch digitale Systeme unterstützt oder teilweise übernommen. Diese Entwicklung betrifft nicht nur Verwaltung und Diagnostik, sondern immer mehr auch Bereiche, die traditionell von persönlicher Interaktion geprägt sind – wie die Psychotherapie.
Automatisierung als neue dimension therapeutischer unterstützung
Unter Automatisierung wird im Gesundheitskontext die Nutzung digitaler Systeme verstanden, die bestimmte Aufgaben selbstständig oder teilautomatisiert ausführen. Dazu zählen beispielsweise automatisierte Termin- und Dokumentationssysteme, digitale Diagnostiktools oder interaktive Programme zur Gesundheitsförderung. In der Psychotherapie eröffnet diese Entwicklung neue Möglichkeiten: Sie kann den Zugang zu Unterstützung erleichtern, Wartezeiten überbrücken und Patient:innen befähigen, therapeutische Inhalte eigenständig zu vertiefen.
In den letzten Jahren sind zahlreiche digitale Anwendungen entstanden, die psychotherapeutische Prinzipien in automatisierter Form bereitstellen. Diese Apps oder Online-Plattformen leiten Nutzer*innen etwa durch Übungen aus der kognitiven Verhaltenstherapie, unterstützen beim Erkennen dysfunktionaler Denkmuster oder fördern Achtsamkeit und Emotionsregulation. Diese können ergänzend zu einer bestehenden Psychotherapie eingesetzt werden oder können sich – gerade da Wartezeiten auf Psychotherapieplätze oft lang sind – auch in Vorbereitung zu Psychotherapie eignen. Studien zeigen, dass solche Programme positive Effekte auf Selbstwirksamkeit, Motivation und Symptomreduktion haben können (Andersson et al., 2019; Linardon et al., 2019).
Digitale Gesundheitsanwendungen im psychischen bereich
In Deutschland können Apps vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) geprüft und als Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) zugelassen werden. Diese können dann – ähnlich wie Medikamente oder Heilmittel – von Ärzt:innen oder Psychotherapeut:innen verordnet werden. Mit einem Rezept übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen in der Regel die Kosten.
Zu den bekanntesten psychotherapeutisch ausgerichteten DiGA zählt Deprexis, ein interaktives Online-Programm, das speziell für Menschen mit Depressionen entwickelt wurde. Es führt Nutzer:innen in dialogähnlicher Form durch Module, die auf kognitiv-behavioralen Techniken basieren, und bietet Übungen zu Themen wie Gedankenmuster, Aktivierung und Selbstfürsorge. Studien belegen, dass Deprexis depressive Symptome signifikant reduzieren kann, insbesondere wenn die Anwendung therapiebegleitend erfolgt.
Ebenfalls weit verbreitet ist Selfapy, das Online-Kurse für psychische Belastungen wie Depression, Angststörungen oder Stress anbietet. Die Kurse bestehen aus psychoedukativen Inhalten, interaktiven Übungen und Begleitung durch geschulte Psycholog:innen. Auch hier gilt: Selfapy kann sowohl als alleinstehendes Selbsthilfeangebot als auch in Kombination mit einer Psychotherapie genutzt werden, um Fortschritte zu stabilisieren und Rückfälle vorzubeugen.
Mindable beispielsweise richtet sich an Personen mit Panikstörung oder Agoraphobie. Die App nutzt verhaltenstherapeutische Expositionsübungen, um Betroffene bei der schrittweisen Konfrontation mit angstauslösenden Situationen zu unterstützen.
HelloBetter bietet eine Reihe von Online-Programmen für Themen wie Stress, Schlafstörungen, Depression und Alkoholkonsum.
Die Einführung von DiGA markiert einen wichtigen Schritt in Richtung einer digital integrierten Versorgung. Durch die Zertifizierung wird bestätigt, dass sie hohe Anforderungen an Datenschutz, Datensicherheit und Wirksamkeit erfüllen.
Langfristig könnte die Nutzung von DiGA dazu beitragen, Versorgungslücken zu schließen, Wartezeiten zu überbrücken und Patientinnen stärker in ihre eigene Behandlung einzubeziehen. Damit diese Potenziale voll ausgeschöpft werden können, ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Therapeut:innen, Patient:innen und den Anbietern solcher Anwendungen hilfreich. So kann gewährleistet werden, dass digitale Hilfsmittel verantwortungsvoll eingesetzt und in einen wirksamen psychotherapeutischen Gesamtprozess integriert werden.
ChatGPT im Eigenversuch
Neben diesen Anwendungen könnte man sich die Frage stellen, ob auch künstliche Intelligenzen wie ChatGPT eine hilfreiche Rolle übernommen können. Dass dies der Fall sein kann, zeigt sich in einem Selbstversuch. Der Autor dieses Artikels gab dort ein: „Ich bin oft sehr müde. Mir fällt es oft schwer, aufzustehen. Außerdem fühle ich mich traurig. Spaß habe ich nur noch selten.“
ChatGPT erkannte korrekterweise: „[D]as können Anzeichen für eine depressive Verstimmung oder sogar eine Depression sein.“ Dabei leistete es auch gleich emotionale Unterstützung: „Das Wichtigste zuerst: Du bist nicht allein, und es ist gut, dass du überhaupt darüber sprichst. Viele Menschen erleben Phasen, in denen sie sich so fühlen – und es gibt Hilfe.“
Anschließend gab ChatGPT sinnvolle Tipps, u.a., mit jemandem darüber zu sprechen, sich Hilfe bei einer Psychotherapeut:in zu holen, ein Symptomtagebuch zu führen (um z.B. Auslöser besser zu erkennen) und sich kleine Ziele zu setzen, die verhaltensaktivierend wirken. Zudem ermuntert ChatGPT dazu, sich selbst die Erlaubnis zu geben, sich Hilfe zu holen – etwas, mit dem viele Betroffene hadern.
Natürlich kann ChatGPT keine Psychotherapie ersetzen. Dennoch kann es ein sehr niederschwelliger Einstieg sein, kann auf bestehende Problematiken hinweisen und gibt Tipps und Hinweise, die sinnvoll erscheinen.
Chancen und Herausforderungen der Automatisierung in der Psychotherapie
Die Automatisierung psychotherapeutischer Prozesse bietet deutliche Chancen:
- Zugangserleichterung:
Digitale Angebote können orts- und zeitunabhängig genutzt werden und verringern Barrieren beim Zugang zu Unterstützung.
- Behandlungsbegleitung:
Zwischen Sitzungen ermöglichen automatisierte Systeme die Fortführung therapeutischer Übungen und die Dokumentation von Fortschritten.
- Selbstwirksamkeit und Eigenverantwortung:
Die eigenständige Nutzung solcher Programme kann das Gefühl stärken, aktiv am eigenen Genesungsprozess beteiligt zu sein.
Dem stehen jedoch Herausforderungen gegenüber. Automatisierte Systeme basieren auf standardisierten Abläufen und können komplexe emotionale oder biografische Zusammenhänge nur begrenzt erfassen. Datenschutz und Datensicherheit sind zentrale Voraussetzungen, da psychologische Daten besonders sensibel sind. Zudem besteht die Gefahr, dass automatisierte Angebote als Ersatz für persönliche Therapie missverstanden werden – insbesondere, wenn sie kommerziell ohne klare Aufklärung beworben werden.
Fazit
Die fortschreitende Automatisierung im Bereich psychischer Gesundheit bietet Chancen, dass digitale Systeme zunehmend in therapeutische Kontexte integriert werden. Sie können dabei unterstützen, den Zugang zu Hilfsangeboten zu erleichtern und Patient:innen in ihrem Selbstmanagement zu stärken. Ihr Nutzen liegt vor allem in der Ergänzung bestehender Versorgungsstrukturen – nicht in deren Ersatz. Bei der Nutzung von Automatisierung ist wichtig, dass Fragen wie die Wirksamkeit, Akzeptanz durch die Patient:innen und Datenschutz hinreichend beantwortet sind. Wenn dies der Fall ist und automatisierte Anwendungen verantwortungsvoll eingesetzt und professionell begleitet werden, können sie einen wertvollen Beitrag zur Behandlung psychischer Erkrankungen leisten.
Auch im Projekt HYKO beschäftigen wir uns mit der Frage, wie Vertrauen in Automatisierung entsteht – in wirtschaftlichen, organisatorischen und psychologischen Kontexten. Dabei zeigt sich, dass technologische Systeme vor allem dann erfolgreich sind, wenn sie menschliche Kompetenzen unterstützen, statt sie zu ersetzen. Die gewonnenen Erkenntnisse aus dem Projekt sollen dazu beitragen, Automatisierung verantwortungsvoll und menschengerecht zu gestalten, sowohl in Unternehmen als auch im Gesundheitswesen.
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Zögern Sie nicht, sich an eine Ärztin, einen Arzt, eine Psychotherapeutin oder einen Psychotherapeuten zu wenden.
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Literatur
- Andersson, G., Carlbring, P., Titov, N., & Lindefors, N. (2019). Internet-delivered psychological treatments: From innovation to implementation. World Psychiatry, 18(1), 20–28.
- Linardon, J., Cuijpers, P., Carlbring, P., Messer, M., & Fuller-Tyszkiewicz, M. (2019). The efficacy of app-supported smartphone interventions for mental health problems: A meta-analysis of randomized controlled trials. World Psychiatry, 18(3), 325–336.
